Die Poetikprofessorin 2022: Yoko Tawada

Mit der japanischen Autorin Yoko Tawada übernimmt eine Ausnahmeerscheinung der deutschsprachigen Literatur die Bamberger Poetikprofessur 2022. Der deutschsprachigen? Ja! Seit sie bei Sigrid Weigel über Walter Benjamin promovierte, schreibt die Tokioerin auch auf Deutsch und seitdem im Wechsel, mal Japanisch, mal Deutsch, mal sogar in beiden Sprachen zugleich. Die Zweisprachigkeit, die sie in ihrem Werk praktiziert, verdankt sie aber nicht nur ihrem akademischen Hintergrund, sondern ist auch Resultat ihrer Neugier, vertraute Regionen zu verlassen und neue Gegenden aufzusuchen. Ihre Perspektive ist die einer ?poetischen Ethnologin“ (So formulierte es das Internationale Literaturfestival in Berlin). Nichts bleibt diesem Blick selbstverst?ndlich, kleinste Dinge werden aufmerksam betrachtet und in einer Raffinesse beschrieben, die unser Alltagsverst?ndnis nicht ohne Humor in Frage stellt. Ihr Werk ist dabei in einem besonders hohen Ma? sprachreflexiv und liefert uns in diesem Kontext ganz neue Sichtweisen auf andere poetische Werke, zum Beispiel das von Paul Celan. Auch ihre eigene Muttersprache wird dabei nicht ausgespart, Christine Ivanovic spricht in diesem Zusammenhang von einem ?konsequenten Abtasten der Sprache“, eine Formulierung, die zudem belegt, wie sinnlich und k?rpernah die Texte Tawadas gestaltet sind.

Ihr Werk ist dabei in allen Gattungen zu Hause, ob es die Lyrik, die Kurzprosa, der Roman oder der Essay ist. Ihre besondere Liebe geh?rt dem Theater, ihre Theaterstücke werden mit eigens gegründeten Theatergruppen gespielt, vor allem mit der Gruppe Lasenkan und jüngst mit der Theatergruppe RambaZamba in Berlin.

Im Mittelpunkt ihres Schaffens stehen hybride (RE-) Lektüren unserer Welt. In ihrem Theaterstück ?Kafka Kaikoku“ wird das exemplarisch deutlich. Kaikoku hei?t auf Japanisch ?ffnung und dieses Stück thematisiert zumindest beides: Eine Relektüre von Kafkas ?Verwandlung“ und realhistorisch Japans ?ffnung nach Westen Ende des 19. Jahrhunderts. In ihrem Werk verweben sich traditionelle mit modernen Formen, ?stliche mit westlichen Techniken, alte mit neuen Texten, Sprachen und kulturellen Praktiken. Tawada zeigt uns, welchen Reichtum der künstlerische Ausdruck gewinnt, wenn er sich fortw?hrend verwandelt und das Material seiner Verwandlung aus einem denkbar reichen kulturellen Reservoir bezieht, aus dem japanischen und dem deutschen. Daraus entsteht eine Mehrstimmigkeit, die mitunter ?Bilder einer schwebenden Welt zeigen“, die nicht immer greifbar, aber in ihrer Subtilit?t doch sehr deutlich als zusammengesetzte, umherflirrende, transkulturell dynamische Bilder wahrzunehmen sind.

In ihrem neuesten Roman ?Sendbo-ote“ wird Yoko Tawada politischer. Das Japan des Romans (der Name f?llt nicht) hat nach Fukushima alle Verbindungen zur Au?enwelt gekappt, nahezu niemand fliegt ins Ausland, zudem werden Fremdw?rter vermieden, das Internet hat aufgeh?rt zu existieren. Auch innerhalb Japans findet wenig Verkehr statt, dennoch spielt der Roman nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart. Tawada selbst sagt, dass sie keine Dystopie geschrieben h?tte, sondern lediglich in einiger ?berspitzung von den aktuellen japanischen Gegebenheiten ausgegangen ist. Von einer überalterten Gesellschaft n?mlich, in der viele Alte bei sehr guter Gesundheit sehr alt werden und vielf?ltige Aufgaben übernehmen. Tawadas Roman zeigt, wie Verantwortung in einer Welt m?glich ist, die nicht mehr zu heilen ist. Der Roman diskutiert, wie Mitgefühl und Liebe sich vollziehen, obwohl die Katastrophe eigentlich zu einer Dauerkrise h?tte führen müssen, die sogar die Familienbande zerst?rt.

Das Werk Yoko Tawadas hat sehr zahlreiche Auszeichnungen erfahren, u. a. wurde ihr die Goethe-Medaille verliehen, der Erlanger Literaturpreis für Poesie als ?bersetzung, sowie der Kleist-Preis, schon 1993 erhielt sie mit dem Akutagawa-Sho, den renommiertesten japanischen Literaturpreis, wenig sp?ter den Adelbert von Chamisso-Preis. Ihre Texte erscheinen als sehr kunstvoll gestaltete Buchkunstobjekte im Konkursbuch-Verlag von Claudia Gehrke in Tübingen. Hier eine kleine Auswahl:

?Nur da wo du bist da ist nichts? (Gedichte und Prosa 1987)

?Talisman? (1996)

?Opium für Ovid? (2000)

??berseezungen? (2002)

?Das nackte Auge? (2004)

?Sprachpolizei und Spielpolyglotte? (2007)

?Fremde Wasser? (Vortr?ge der Hamburger Gastprofessur für kulturelle Poetik)

?Etüden im Schnee? (2014)

?Ein Balkonplatz für flüchtige Abende? (2016)

?akzentfrei?(Essays 2016)

?Sendbo-ote? (2021)

 

Ihre Bamberger Poetikprofessur wird den Titel tragen ?Jenseits von Geschlecht“.

Ihre Vortr?ge an der Universit?t Bamberg finden um 20 Uhr in Raum U2/00.25 statt am:

 

22.6.2022

29.6.2022

6.7.2022

14.7.2022

 

Vom 14. – 16.7 2022 diskutiert ein international besetztes Kolloquium (Japan, USA, Frankreich, Polen, Italien, ?sterreich und Deutschland) das Werk Yoko Tawadas im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia (www.villa-concordia.de). N?here Informationen erhalten Sie bei der Veranstalterin Prof. Dr. Iris Hermann (Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft): iris.hermann@uni-bamberg.de. Sehr lesenswert auch die Homepage von Yoko Tawada: yokotawada.de.