Bericht zur Tagung ?Ideengeschichte und Ideenpolitik der S?kularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte“

(Bamberg, 13.–15. Juni 2024)

Die von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte Bamberger Tagung ?Ideengeschichte und Ideenpolitik der S?kularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte“ konnte bis auf eine ?nderung – Liliya Berezhnaya musste ihre Teilnahme kurzfristig absagen – programmgem?? durchgeführt werden. Das Ziel, eine slavistische Bestandsaufnahme hinsichtlich der neueren historischen Forschung zur S?kularisierung im russischen Imperium bzw. in der Sowjetunion zu leisten und einen Transfer ihrer Ertr?ge in die Literatur- und Kulturwissenschaft anzuregen, ist erreicht worden. Mehr als die Frage nach der Plausibilit?t der ?klassischen S?kularisierungsthese‘ – der Annahme eines allgemeinen Rückzugs der Religion in der Neuzeit – interessierte das ?ideenpolitische‘ (Hermann Lübbe) Potential von S?kularisierungslogiken und Gegennarrativen in verschiedenen historischen Konstellationen. In den 30-minütigen Vortr?gen wurden u.a. Motive und Verfahren der Stilisierung vors?kularer Lebenswelten, das dialektische Spannungsfeld von Ver- und Entweltlichung, Zeit- und Raumkonzepte verhandelt. Stets gelang es, die Spezialprobleme auf die Fragestellung der Tagung zurück zu beziehen und Querbezüge zwischen den Vortr?gen auf Problemfelder hin zu bündeln. Am zweiten Konferenztag fand eine Stadtführung auf den Spuren der S?kularisation des Hochstifts Bamberg (1802/1803) mit Prof. Dr. Martin Ott, Leiter des Instituts für Fr?nkische Landesgeschichte (Bamberg/Bayreuth), statt. Die Veranschaulichung der historischen S?kularisation des geistlichen Staats am Beispiel Bambergs führte den Teilnehmenden einen h?chst aufschlussreichen Kontrapunkt zu den geistesgeschichtlichen und ideenpolitischen Diskursen/Narrativen zur S?kularisierung vor Augen.

Im ersten Panel, ?S?kularisierung in Russland: Grundlagen“, sprach Aage A. Hansen-L?ve (München/Wien) zu ?S?kularisierung und Remythisierung – am Beispiel der russischen Literatur vom Realismus zur Postmoderne. Typologische Konstanten und Varianten“. Sein Beitrag wurde durch die Absenz von L. Berezhnaya faktisch zum Key-Note-Vortrag. Hansen- L?ve schlug zun?chst die Unterscheidung zwischen einem hermeneutischen und einem strukturellen Verst?ndnis von ?S?kularisierung‘ vor. Bei der hermeneutischen S?kularisierung stünden die Signifikate zur Debatte, also die Botschaft von Motiven, Texten, Genres etc., die aus einer religi?sen, mythischen oder hermetischen Sinngebung in eine profane Sph?re übersetzt werden, wobei Themen und Wertungen im Zentrum stünden. Bei der strukturell- analytischen S?kularisierung blieben die Signifikanten einer ursprünglich mythischen, religi?sen etc. Mitteilung bzw. Textsorte hingegen gleich, w?hrend ihre Inhalte und Themen wechselten. Die zentrale These, die Hansen-L?ve mit einer breiten Palette von Beispielen aus der russischen Literatur belegte, besteht darin, dass strukturell-analytische S?kularisierung stets mit Ph?nomenen einer ?Remythisierung“ einhergehe, die nicht mit Resakralisierung gleichgesetzt werden k?nne. In Mittelpunkt der Diskussion stand somit die Frage nach der unausweichlichen Asymmetrie des Begriffspaars S?kularisierung/Remythisierung, da sich S?kularisierung als ein Konzept ohne klar fixierbares Antonym erweise. Diese Einsicht war für die weiteren Gespr?che der Tagung ?u?erst hilfreich.

Im zweiten Panel, ?Topographien“, sprach zun?chst Josephine von Zitzewitz (London) über ?Literatur als Religion und die Russisch-Orthodoxe Kirche: Das Religi?s-Philosophische Seminar (Leningrad 1974-1980)“. Von Zitzewitz zeigte, wie sich in den 1970er Jahren viele junge Intellektuelle – nicht alle von Ihnen überzeugte Dissidenten – dem orthodoxen Christentum zuwandten. In den meisten F?llen sei dies mit einem starken Interesse an ?traditionellen“ russischen nationalen Werten verbunden gewesen. Von Zitzewitz stellte das sog. Religi?s-Philosophische Seminar in Leningrad (1974–1980; Tat?jana Gori?eva, Viktor Krivulin, Sergej Stratanovskij, Evgenij Pazuchin u.a.) als Ausnahme hiervon dar: Seine Mitglieder konzeptualisierten Religion als zentrales Element einer weltoffenen literarischen Kultur. Es sei ihnen gelungen, ihr Interesse an der orthodoxen Religion als ?Option“ (Charles Taylor) zu leben, ohne in einen russischen Nationalismus zu verfallen. Kultur sei hier als Religion, Religion als Kultur wahrgenommen worden – was, so von Zitzewitz, faktisch bedeutete, dass das religi?se Revival auf der S?kularisierung beruhte, ja im ?Medium‘ der S?kularisierung aufgetreten sei.

Eliane Fitzés (Fribourg) Vortrag ?Belovod?e, Bujan, Kite?: Insel-Tropen als Antis?kularisierungsnarrative in der russischen Literatur und im Film von der Sowjetzeit bis heute“ nahm mythologische Inseln in den Blick, die sie als tropisch verdichtete russische ?Antis?kularisierungsnarrative“ diskutierte. Den Insel-Tropen hafte eine Semantik des Bewahrens vergangener Formen von ?Russischsein‘ an; sie beschrieben, dass Russlands Ideal in der vors?kularen Vergangenheit zu suchen sei. Im Journalismus, in der Geisteswissenschaft, im Dokumentarfilm (hier auf dem Youtube-Kanal ?Ostoro?no: Sob?ak“) werde das Narrativ best?rkt, dass diese Inseln kulturell spezifische Sehnsuchtsorte des Russischen darstellten, da sich dort eine geistliche Ordnung erhalten habe, unberührt von den ?entfremdenden‘ Prozessen der Verweltlichung. Der Vortrag griff anschaulich die Hypothese der Tagung auf, wonach Antis?kularisierungsnarrative besonders in Krisenmomenten Konjunktur erlebten.

Im dritten Panel, ?S?kularisierung und Macht“, sprach Regula M. Zwahlen (Fribourg) über ?Theokratie im post-konstantinischen Zeitalter“ bei den russischen Religionsphilosophen Vladimir Solov?ev, Sergij Bulgakov und Nikolaj Berdjaev. Die Formel, die orthodoxe Kirche Russlands habe nach dem Konzil und der Oktoberrevolution die konstantinische Phase ihrer Geschichte hinter sich gelassen, wurde von dem Kirchenhistoriker Anton Karta?ev, für kurze Zeit Oberprokurator der Heiligen Synode unter der provisorischen Regierung 1917, 1923 gepr?gt. Der zentrale Begriff, um den sich ihre ideenpolitischen Debatten drehten, sei jedoch die Theokratie bzw. die ?freie Theokratie“ (Solov’ev) gewesen. So seien neue ?theokratische“ Konzepte (?politische Theologien“ avant la lettre) als theologisch begründete Visionen über das Verh?ltnis der Kirche zur politischen Sph?re in der durch S?kularisierung gekennzeichneten post-konstantinischen ?ra entstanden. Kennzeichnend hierfür sei nicht prim?r eine Kritik des S?kularen, sondern der Vorwurf an die (russische) Kirche, durch ihre Staatstreue ein ?richtiges“ Verst?ndnis von Theokratie pervertiert, moderne Entwicklungen der Gesellschaft ignoriert und dadurch der S?kularisierung Vorschub geleistet zu haben.

Im zweiten Vortrag des Panels, ?Die Wiederkehr des verborgenen Herrschers: Die Legende vom Starcen Fedor Kuz?mi? als Antis?kularisierungsnarrativ“, führte Rainer Goldt (Mainz) die Problematik der Macht und ihrer geschichtlichen ?Vakanzen‘ aus. Seit dem 19. Jahrhundert entfalteten sich in Russland die ?berlieferungen vom inszenierten Tod Zar Aleksandr I. 1825 und seinem Weiterleben als Starez Fedor Kuz?mi?. So bündelte der Fedor- Kuz?mi?-Stoff eine Vielzahl sowohl religi?ser als auch s?kularer Konflikte: die Aporie von Macht und Ethos, weltlicher und geistiger Autorit?t, die Urschuld des Vatermords sowie die religi?se Sehnsucht nach der Wiederkehr des Rex absconditus. Bezeichnenderweise habe die künstlerische Gestaltung des Fedor Kuz?mi?-Stoffs ihre Blütephasen beim Ansturm der Moderne gegen Tradition und Zarentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach 1917 in der um ihre kulturelle Identit?t ringenden Ersten Emigration und schlie?lich w?hrend der Identit?tskrise nach dem Zerfall der UdSSR in den 1990er Jahren erlebt.

Im vierten Panel, ?Verweltlichung“, ging Heinrich Kirschbaum (Freiburg) in seinem Vortrag ??Die gro?e Verweltlichung der Sprache‘: Osip Mandel??tams S?kularisierungsbegriff zwischen Kulturkritik und Poetik“ auf Osip Mandel??tams S?kularisierungskonzept in seiner Entwicklung sowie in seinen meta- und transdiskursiven Valenzen nach. Kirschbaum zeichnete eine Bewegung von einem symbolistisch gepr?gten ideologisch-?sthetischen Konzept hin zu einem programmatisch kulturkritischen und zugleich prinzipiell poetologischen Begriff nach, der die sprachlichen, literarischen und kulturellen Prozesse in der Geschichte und der neuen (post-)revolution?ren Gegenwart zu beschreiben beanspruchte. Kirschbaum zeigte, wie Mandel??tam vor der Revolution die religi?se Tradition, u.a. die Pariser Notre Dame, als poetischen Metaphernspender verwendete und umgekehrt profane Kultur nach der Revolution in religi?sen Bildern überh?hte. Allerdings finden sich dann zunehmend mehr Texte, die das Verh?ltnis zwischen Kultur/Literatur und religi?ser Tradition konfrontativ auffassen: Ab 1923 entwickelte Mandel??tam eine Fülle von aggressiv antiklerikalen Profanierungskonzepten. So gelang es Kirschbaum anhand der Untersuchung des S?kularisierungsdiskurses noch immer wenig beachtete kulturrevolution?re Aspekte im Werk Mandel??tams herauszuarbeiten, die meist gegenüber den ?weltkulturellen‘ ausgeblendet werden. In der Diskussion wurde problematisiert, inwiefern es bei Mandel??tam um 1930 wieder zu Gegentendenzen gekommen, d.h. inwiefern das Konzept flexibel für Transformationen geblieben sei.

Im zweiten Beitrag des Panels zur ?Verweltlichung“ sprach Dirk Uffelmann (Gie?en) über ?Verweltlichte Inkarnation. ?Sorokin‘ in Dachau“. Anschlie?end an seine Monografie Der erniedrigte Christus (2010), thematisierte Uffelmann ?kenotische Restethik“ in dem Kurzroman Mesjac v Dachau (Der Monat in Dachau, 1992). Uffelmann verknüpfte die groteske ?sthetik des H?sslichen und Ekelhaften in Vladimir Sorokins fiktionalisiertem Bericht von seinem Besuch in dem deutschen Konzentrationslager w?hrend eines Stipendienaufenthalts in Feldafing mit der christlichen Theologie der Selbstent?u?erung Christi nach Phil 2,7 (Kenosis) – was ebenso überraschend wie wohlbegründet ist, wenn man an solche neologistischen Formeln wie ?christoko?ee bogomjaso“ (?christh?utiges Gottfleisch“) in dem Text denkt. In enger Auseinandersetzung mit der Sekund?rliteratur zu Sorokin (u.a. Peter Deutschmann, Mark Lipovetsky) und in Exkursen zu Friedrich Gogarten, Jean-Luc Nancy und Gianni Vattimo verband Uffelmann sodann die Kenosis mit Logiken der S?kularisierung als ?Mundanisierung“. Der Konzeptualismus, aus dem Sorokin ?sthetisch hervorgegangen war, werde in Mesjac v Dachau, so Uffelmanns These, zu einem ?metakenotischen“ Kommentar zur S?kularisierung. Die Metakenosis ersch?pfe sich aber nicht in einer De(kon)struktion kulturgeschichtlicher Tropen, sondern bewahre ein ethisches Reflexionspotential, das insbesondere in den Folterszenen des Werkes sichtbar bleibe. Selbst in der Postmoderne, von der man eigentlich eine Radikalisierung der S?kularisierungsthese erwarten dürfe, bewahre sich somit ein sakraler Kernbestand, der literarisch aktualisiert werden k?nne.

Im fünften Panel, ?Sonderwege? S?kularisierungsnarrative in Russland“ wurden sowjetische Alternativen zum revolution?ren ?militanten Atheismus“ thematisiert. Clemens Günther (Berlin) zeigte in seinem Beitrag ?Gott und Golem – Kybernetik, S?kularisierung und die Frage nach einem sowjetischen Sonderweg“, wie die Kybernetik zuerst im Westen, dann auch in der Sowjetunion von führenden Vertretern in Analogie zu Religion beschrieben werden konnte. Norbert Wieners Buch God & Golem (1964) erschien 1966 in der Sowjetunion auf Russisch. Informationstechnologie und -steuerung wurde bei Wiener in einer Substitutionsgeste als quasi-g?ttlich aufgefasst. Der Physiker Friedrich Dessauer im Westen und der orthodoxe Theologe Aleksandr Men? in der Sowjetunion versuchten umgekehrt, Gott kybernetisch, d.h. als unersch?pflichen Informationskomplex zu beschreiben. Günther veranschaulichte an Fallstudien zu Valentin Tur?ins Abhandlung Inercija stracha (1966; engl. The Inertia of Fear, 1981) und zu Vladimir Tendrjakovs Roman Poku?enie na mira?i (Anschlag auf Visionen, 1984; dt. 1989) die typische sp?tsowjetische Insistenz auf religi?sen Residuen sogar in vermeintlich religionsfreien, szientistischen Kontexten, wobei die Form des Religi?sen hier stets unbestimmt geblieben und zuallererst eine Sprache für das ?Staunen“ gewesen sei. W?hrend die Kybernetik westlichen Denkern wie Martin Heidegger prim?r als Inbegriff einer radikalisierten Entzauberung der Welt galt, so etablierte sie in der Sowjetunion ein begriffliches und konzeptuelles Angebot, das von sehr unterschiedlichen Denkern religi?s gewendet wurde.

Im zweiten Vortrag des Panels, ?Wir sind nie s?kular gewesen. S?kularisierungsnarrative der sp?tsowjetischen Geisteswissenschaften“, kam Christian Zehnder (Bamberg) auf marginale und relativ unabh?ngige Zweige der sowjetischen akademischen Landschaft der 1970er und 1980er Jahre zu sprechen. Zehnder ging es um die latente Theoriebildung der sp?tsowjetischen Geisteswissenschaften zur S?kularisierung. Diese bleibe in dem wissenschaftlichen bzw. teils essayistischen Textkorpus eher eine Implikation des jeweiligen Gegenstandes. Gerade dadurch versehe sie die Studien jedoch mit einer narrativen Suggestivit?t. Zehnder diskutierte drei Formen der sp?tsowjetischen akademischen S?kularisierungserz?hlung: 1) die allgemeinste, auf Unausweichlichkeit, Fortschritt und vollst?ndige Emanzipation von Religion abhebende; 2) ?Umbesetzungen“ und transformierte Persistenz sakraler Gehalte; 3) die Postulierung einer ?neutralen‘ S?kularisierung, die dabei auf christlich-theologischen Pr?missen beruhte. Wie er argumentierte, habe sich das Interesse der sowjetischen Geisteswissenschaften zwischen 1970 und 1990 von der ersten zur zweiten und in manchen F?llen hin zur dritten Version der S?kularisierungserz?hlung verschoben. In der Diskussion zeigte sich exemplarisch, dass russisch-sowjetische Debatten zur S?kularisierung um 1990 kaum unter Ausblendung der sp?teren Entwicklung betrachtet werden k?nnen: Denn die seit ca. 2000 zu beobachtende Indienstnahme der russisch-orthodoxen Kirche durch den Staat scheint Sichtweisen aus der Zeit Perestrojka und den 1990er Jahren zu best?tigen, die das sowjetische Projekt als ?parareligi?s“ verstanden und die unter dem Stichwort der S?kularisierung die Etablierung eines ?Mittelgrundes“ forderten, der sowohl einen Rückfall in theokratische wie auch in militant antireligi?se Tendenzen verunm?glichen sollte.

Das Panel beschloss Nikolaj Plotnikov (Bochum) mit seinem Beitrag ?S?kularisierung und Humanismus: Die Kontroversen um das normative Menschenbild in der russischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts“. Anhand der Debatten um eine Kritik des ?Humanismus‘ im 20. Jahrhundert in Russland skizzierte Plotnikov die Kontroverse zwischen einem s?kularen und einem religi?sen Menschenbild. Diese Kontroverse durchziehe, so Plotnikov, auch das postsowjetische Verst?ndnis von der normativen Ausgestaltung der ethischen und rechtlichen Bestimmungen des Menschen (z.B. Menschenrechte). In der aktuell zu beobachtenden Dominanz der klerikal gepr?gten ?traditionellen Werte‘ in Russland, die das sowjetisch- technizistische Menschenbild mit dem magisch-religi?sen amalgamierten, manifestiere sich ein Scheitern der S?kularisierung und des Projekts der Aufkl?rung in Russland.

Im sechsten Panel, ?Tolstoj und die (Il-)Legitimit?t der Moderne“ sprach Lina Steiner (Bonn) zu ?Leo Tolstoy on the Path to Secular Modernity“. Obwohl die meisten jüngeren Analysen den Versuch, Tolstojs religi?ses Denken mit den Lehren der orthodoxen Kirche in Einklang zu bringen, l?ngst aufgegeben h?tten, halte sich, so Steiner, hartn?ckig die Auffassung, dass Tolstojs religi?se Wende 1880 ein Versuch gewesen sei, die Tendenz zur S?kularisierung umzukehren. Steiner argumentierte dagegen, dass Tolstojs Bekehrung kein spontaner Glaubenssprung gewesen sei. Vielmehr sei sie durch sein langj?hriges Studium der Sp?taufkl?rung und des deutschen Idealismus wie Rousseau, Kant, Herder und Fichte vorbereitet worden, die die Religion als eine Angelegenheit der reifen praktischen Vernunft (bei Tolstoj razumnoe soznanie) betrachteten. Im Mittelpunkt von Tolstojs Religionsauffassung stehe ein selbstbewusstes ?expressives Selbst“, ein entzaubertes Weltbild und ein ?neues Leben“, wie Steiner in einem Close Reading von Tolstojs sp?ter Erz?hlung ?Bo?estvennoe i ?elove?eskoe“ (Das G?ttliche und das Menschliche, 1903) erl?uterte.

Im Beitrag ?Nata?a betet: S?kularisierungskonstellationen in Vojna i mir“ schlug Jens Herlth (Fribourg) zun?chst vor, Tolstojs Krieg und Frieden als erz?hlerische Reflexion über die Problematik von Legitimit?tsmodellen lesen – und als Versuch, neue Modelle von Legitimit?t zu installieren. Dies betreffe in erster Linie die Sph?re des Politischen. Die religi?se Dimension werde dabei als Quelle von Handlungsmotivation und politischer Legitimit?t trockengelegt und in den Bereich des Privaten verwiesen, wo sie ihre allerdings entscheidende Rolle in den existentiellen Krisen und Grenzerfahrungen der Protagonistinnen und Protagonisten spiele. So zeige Tolstoj die Aporien auf, die sich aus dem Epochenbruch um 1800 ergeben hatten – sowohl aus der aufkl?rerischen Beschr?nkung und Einhegung des Religi?sen als auch aus seiner staatlichen Instrumentalisierung. Herlth zeichnete so ein weniger klares Bild von Tolstojs Verh?ltnis zur Religion als Steiner. Inwiefern Tolstoj ein ?S?kularist‘ oder doch Anh?nger einer resakralisierenden Tendenz war, wurde im Anschluss ohne definitives Ergebnis diskutiert.

Im siebten Panel, ?Jenseits des Christentums“, sprach Michal Mrugalski (Tübingen) zum Thema ?Schamanische Depression: ?ber das Schweben zwischen S?kularisierung und Sakralisierung“. Mrugalski veranschaulichte, wie die Schamanenfigur seit den 1860er Jahren als historisches und psychologisches Argument in dem Unternehmen diente, dem Christentum den Status der Offenbarung abzusprechen, d.h. die christliche Religion in eine Evolutionsgeschichte der Weltreligionen einzuschreiben, deren Anf?nge im Schamanismus l?gen. Nikolaj Veslovskij bezeichnete diesen 1903 nachdrücklich als ?roheste heidnische Religion“. Gleichzeitig sei der Schamanismus. Aber gerade durch den Regress auf das ?Rudiment?re“ habe das Sakrale in der entzauberten Welt der Intelligenzija überleben k?nnen, wie Mrugalski an einer Fülle literarischer Beispiele zeigte, die von der russischen Avantgarde bis zur Lagerliteratur, namentlich der Prosa Varlam ?alamovs, reichten.

In seinem Beitrag ?Die russische Islamdebatte. Russlands indigener Islam als Argument für und wider die S?kularisierung“ hielt Klaus Buchenau (Regensburg) zun?chst fest, dass im offiziellen russischen Diskurs scharf unterschieden werde zwischen einem heimischen, positiven und einem von au?en hereingetragenen, negativen Islam. Im Zentrum des positiven Islambilds stehe die ?russisch-tatarische Symbiose“ seit dem 16. Jahrhundert. Dieses Bild interreligi?ser Harmonie sei wiederum verkettet mit Vorstellungen einer tragenden Rolle der ?traditionellen“ Religionen in der russischen Gesellschaft. Diese stützten den gesellschaftspolitischen Konsens des Putinismus (Anti-LGBT, Betonung der traditionellen Rolle der Familie u.a.) und gen?ssen hierfür weitgehende Autonomie in religi?sen Fragen. Indem der Staat die einzelnen Religionen zu einer bestimmten Form der Institutionalisierung dr?nge, gewinne er Zugriffsm?glichkeiten und k?nne die Religionen in die vertikalen Herrschaftsstrukturen eingliedern. Dieses ?russische Modell“ habe eine lange Tradition und werde in Auszügen sogar mittlerweile in Westeuropa kopiert, so die These Buchenaus.

Die Diskussionen der Konferenz haben ein vielgestaltiges Bild der Diskurse und Narrative von S?kularisierung in der russischen und sowjetischen Kulturgeschichte gezeichnet. Auffallend ist die zeitliche Konzentration der Vortr?ge um die nachrevolution?re Periode der langen 1920er Jahre und die sp?tsowjetische Zeit der ?ra Bre?nev. Die Genese und der Zerfall des sowjetischen Imperiums erweisen sich somit als zentrale Perioden der Formierung des sowjetischen S?kularisierungsdiskurses. In Bezug auf die vergleichende Perspektive zum deutschen Fall, die viele der Beitr?ge anlegten, f?llt auf, dass der Schwerpunkt dort in der unmittelbaren Nachkriegszeit liegt, die in Bezug auf die sowjetische Geschichte weniger einschl?gig erscheint. In thematischer Hinsicht ist auffallend, dass die explizite Rede von S?kularisierung nur in wenigen F?llen eine Rolle spielt. S?kularisierung als importiertes westliches Konzept spielt, falls überhaupt, als konzeptueller Hintergrund eine Rolle. Eine russische S?kularisierungstheorie als Analogon zur einschl?gigen deutschen Debatte existiert nicht. Stattdessen gibt es eine auch in generischer Hinsicht faszinierende Vielzahl religi?s informierter Tropen und Denkfiguren bzw. von Konstellationen – um Herlths Begriffsvorschlag aufzugreifen –, die das Verh?ltnis von Religion und Gesellschaft umkreisen. Diese systematisch sowie rhetorisch und narratologisch zu bestimmen, ist eine der Aufgaben des geplanten Sammelbandes. Eine weitere, vor allem vom Er?ffnungsvortrag inspirierte Generalthese k?nnte lauten, dass den russischen Fall eine Kopr?senz s?kularisierender und sakralisierender/remythisierender Tendenzen auszeichnet. Die meisten Texte und Fallbeispiele sind nicht als S?kularisierungs- oder Anti-S?kularisierungsnarrative zu klassifizieren, sondern enthalten im Argumentationsgang selbst beide gegenl?ufigen Positionen.

Prof. Dr. Christian Zehnder (Otto-Friedrich-Universit?t Bamberg)

Dr. Clemens Günther (Freie Universit?t Berlin)