Juli 2018: Die künstlerische Kultur der Ukraine. Exkursion nach Kiew, Odessa & Lemberg


Exkursion der Slavischen Kunst- und Kulturgeschichte vom 7. bis 17. Juli 2018 nach Kiew, Odessa und Lemberg im Rahmen des Seminars ?Die künstlerische Kultur der Ukraine an den Kreuzwegen von Ost und West vom Mittelalter bis heute“ von Prof. Dr. Ada Raev und Hon.-Prof. Dr. Johannes Grotzky im Sommersemester 2018


Die Ukraine, seit Ende 1991 ein unabh?ngiger Staat, gilt als Wiege des multinationalen und multikulturellen Erbes im ?stlichen Europa. Vielfach im Brennpunkt wechselnder politischer Zugriffe, an einem bedeutenden Durchzugsweg von Süd nach Nord (und umgekehrt) gelegen, im Grenzbereich der christlichen Kirchen des Ostens und Westens, und offen für kulturelle Einflüsse aus allen vier Himmelsrichtungen, spiegelt sich in ihrer Kunst und Kultur (wie z.B. in der Ikonenmalerei und in der Architektur) die Kulturentwicklung Europas wider.

KIEW (07.07.-10.07.)

Unsere Reise führte uns zum Auftakt in die ukrainische Hauptstadt Kiew, die aufgrund ihrer historischen Bedeutung als Mittelpunkt der Kiewer Rus nicht nur den Beinamen Mutter aller russischen St?dte tr?gt, sondern wegen ihrer Bedeutung für die orthodoxe Christenheit auch als Jerusalem des Ostens bezeichnet wird.  Nach einem kurzen Flug von Nürnberg bezogen wir, eine 18-k?pfige Reisegruppe, unsere Unterkunft direkt am Fu?e des Andreassteigs im Viertel Podil, dem ?ltesten Stadtviertel Kiews, das durch seine jahrhundertelange Handelstradition bekannt ist. Der Andreassteig wird u.a. wegen der dort ans?ssigen Künstlerszene auch als ?Ukrainischer oder Kiewer Montmartre“ bezeichnet.



Bei durchgehendem Sonnenschein und angenehm warmen Temperaturen besuchten wir in den ersten Tagen zahlreiche Kirchen und Kl?ster, darunter die St. Andreas-Kirche, auch die ?fliegende Kirche“ genannt, die Fundamente der Zehnt-Kirche, der ersten steinernen Kathedrale in Kiew, und die Wladimir-Kathedrale mit ihren prunkvollen Mosaiken und Fresken u.a. von Wiktor Wasnezow und Michail Nesterow.. Auf dem Programm standen natürlich auch die folgenden als UNESCO-Weltkulturerbe eingestuften Bauten: die Sophien-Kathedrale mit ihrem m?chtigen Glockenturm, die als Hauptkathedrale und Bestattungsort der Kiewer Rus diente, sowie das berühmte H?hlenkloster mit der  Mari?-Entschlafens-Kathedrale, die im sog. Kosakenbarock rekonstruiert wurde. Vom Glockenturm aus bekamen wir einen Eindruck vom weitl?ufigen Klosterareal, bevor wir ausgestattet mit einer Kerze die künstlichen H?hleng?nge, in denen damals die M?nche lebten, erkundeten. Heute befinden sich dort die Sarkophage mit teils mumifizierten M?nchen, umgeben von Ikonen und kleine Alt?ren. Ein Besuch des Museums für Buchdruckerei beschloss unseren Aufenthalt auf dem Areal des H?hlenklosters.

Im gut bestückten und bestens eingerichteten Taras-Schewtschenko-Museum erhielten wir dank einer Führung einen ausführlichen Einblick in das Leben und Werk des wichtigsten ukrainischen Nationaldichters, dem eine gro?e Bedeutung für die nationale Identit?t, die Literatur und Sprache der Ukraine zugeschrieben wird. Im Museum für Ukrainische Kunst, das ursprünglich für Antiquit?ten gedacht war, wurde wiederum die gr??te und repr?sentativste Sammlung ukrainischer bildender Kunst gezeigt, darunter Ikonen aus dem 14.-16. Jh. aus der Westukraine sowie ukrainische Avantgarde und sowjetische Kunst. Das PinchukArtCenter des Sammlers Wiktor Pintschuk, das als bedeutendstes Museum für moderne Kunst in der Ukraine sowie als gr??tes Privatmuseum auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gilt, gab uns Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit und Interpretation von zeitgen?ssischer Kunst.



In direkter Nachbarschaft des Museums befindet sich der Bessarabische Markt, an dem der Chreschtschatyk-Boulevard, der gro?e Hauptstadtboulevard mit Geb?uden im "Zuckerb?ckerstil",  vorbeiführt , weiter bis zum Majdan Nesaleshnosti, dem Hauptplatz der Stadt. Dieser wurde mit dem Hotel Ukrajina und dem Unabh?ngigkeitsdenkmal der Ukraine nicht zuletzt durch die Orangene Revolution 2004 und den Euromaidan 2013-2014  bekannt.


Architektonisch beeindruckte uns in Kiew besonders das monumentale Goldene Tor, der frühere Haupteingang der Stadt, mit seinen riesigen Ausma?en sowie die Villa ?Haus mit den Chim?ren“, die nach einem Entwurf des Architekten W?adys?aw Horodecki, auch als ?Gaudi von Kiew“ bekannt, im Jugendstil erbaut wurde. Aufgrund seiner Lage gegenüber dem Pr?sidentenpalast war der Zugang allerdings nur mit Hilfe einiger ?berzeugungsarbeit sowie Pass- und Sicherheitskontrolle m?glich.

Von den vielen Denkm?lern sind uns u.a. das auf einem Hügel unweit des H?hlenklosters gelegene Holodomor-Denkmal, das an die systematische Aushungerung der Bauernschaft in der Ukraine 1932-1933 erinnert, und das Reiterstandbild des Kosaken-Hetmans und Gründers des ersten ukrainischen Staates, Bogdan Chmelnizki, auf dem Platz vor der Sophien-Kathedrale in Erinnerung geblieben.


Kiew pr?sentierte sich insgesamt von seiner besten Seite, und so konnten die lauen Sommerabende beim gemeinsamen Abendessen und einer Geburtstagsfeier, einer Fahrt mit dem Riesenrad und beim Salsa Tanzen auf der Flusspromenade genossen werden. Bereits die ersten Tage in der ukrainischen Hauptstadt waren voller neuer kultureller Eindrücke, wie etwa die aufregenden Fahrten mit der Marschrutka, die türkischen Toiletten, die stimmungsvolle Atmosph?re bei Weihrauch, Kerzenschein und Ges?ngen w?hrend der stundenlangen Gottesdienste in den Kirchen, die innige Ikonenverehrung sowie natürlich die kulinarischen Besonderheiten, wie das Essen bei Puzata Hata und die Eisspezialit?t Plombir.


ODESSA (11.07.-13.07.)

Nach unserer ersten abenteuerlichen Nachtzugfahrt (inkl. gratis Sauna-Waggon) kamen wir um 06:18 Uhr in Odessa an, der wichtigsten Hafen- und Handelsstadt der Ukraine am Schwarzen Meer. Die schmucke Küstenstadt mit ihren breiten Stra?en und pittoresken H?usern im südlichen Klima galt als ?Riviera“ des Zaren- und sp?ter des Sowjetreichs; als Kulturmetropole war sie liberal, multikulturell und multinational. Neben zahlreichen Denkm?lern, wie dem Denkmal für einen Stuhl, gewidmet den Autoren des Romans ?Die zw?lf Stühle“, oder dem Denkmal für Leonid Utjossow, einem Jazzmusiker und Schauspieler, h?lt die Stadt einige architektonische Besonderheiten bereit: z.B. den Woronzow- Palast mit einer ihm gegenüberliegenden Kolonnade im Empire-Stil, den Schah-Palast im neo-gotischen Stil,  der als Domizil für den  persischen Schah Mohammed Ali diente, oder das historistische Wohnhaus der Familie Falz-Fein mit den Atlanten.

Als Wahrzeichen von Odessa gilt jedoch die Potjomkin- oder auch Potemkinsche Treppe, die von den Odessiten auch als ?achtes Weltwunder“ bezeichnet wird. Die Treppe verdankt ihren Namen dem Regisseur Sergei Eisenstein, der sie durch seinen Stummfilm ?Panzerkreuzer Potemkin“ (russ. БроненосецПотёмкин) 1925 berühmt machte. Sie verbindet die auf einem Plateau liegende Innenstadt mit dem ?berseehafen, von wo aus wir die Stadt im Zuge einer kleinen Schifffahrt von einer neuen Seite kennenlernen durften.


Das prachtvolle, sorgf?ltig restaurierte  Opernhaus, wegen seiner runden Form und dem üppigen Dekor auch ?Wiener Torte“ genannt, gilt als einer der architektonischen H?hepunkte der Stadt. Im Rahmen einer Führung konnte auch das Interieur im franz?sischen Neo-Rokoko-Stil bestaunt werden. Darüber hinaus bekamen wir im Museum für Regionalgeschichte einen ?berblick über die historischen Ereignisse und soziokulturellen Entwicklungen der Region rund um Odessa und das Kunstmuseum pr?sentierte Werke der bekanntesten russischen und ukrainischen Künstler des sp?ten 19. und frühen 20. Jhs., darunter Iwan Kramskoi, Ilja Repin, Michail Wrubel und Wassily Kandinsky, aber auch ukrainische Volkskunst und zeitgen?ssische Kunst.


Wir konnten uns davon überzeugen, dass in Odessa die reichhaltige jüdische Kultur einen besonderen Stellenwert einnimmt, im Hinblick auf die Literatur ebenso wie in Bezug auf die Musik und die bildende Kunst. So ist es kein Wunder, dass Odessa zum Gründungsort der zionistischen Bewegung und ein Zentrum der frühen jüdischen Arbeiterbewegung im Russischen Reich wurde. Der Besuch einer Synagoge sowie des ehemaligen jüdischen Viertels ?Moldawanka", auch Viertel des Kleinbürgertums und der Gauner, standen deswegen natürlich ebenfalls auf dem Programm. In unmittelbarer N?he konnten wir auf dem Novyi Bazar das Marktreiben miterleben und dabei selbst das eine oder andere erstehen.

Erfreulicherweise blieb auch noch Zeit für eine Abkühlung im Schwarzen Meer, die bei den hei?en Temperaturen allen willkommen war. Nach dem Hauptstadtflair in Kiew konnten wir nun die idyllische Atmosph?re einer Küstenstadt mit langer Tradition erleben und bei einem gemeinsamen Abendessen, diesmal mit georgischen Gerichten, einen weiteren Geburtstag feiern.


LEMBERG (14.07.-16.07.)

Nach einer weiteren abenteuerlichen Nacht im Zug erwartete uns in Lemberg bei der Ankunft am n?chsten Tag um 07:55 Uhr leider schlechtes Wetter und monsunartiger Regen: Trockene Phasen und Sonnenschein sollten für die letzte Station unserer Exkursion zur Ausnahme werden.

Lemberg, das wichtigste Zentrum der Westukraine, ist ebenfalls seit Jahrhunderten vom Zusammenleben mehrerer Ethnien (z.B. Juden, Ukrainer sowie verschiedene Minderheiten, darunter die deutschsprachige oder die armenische) gepr?gt. Die günstige Lage an der Kreuzung der Handelswege lie? die Stadt über lange Zeit zu einem Zentrum des polnischen Kultur- und Geisteslebens werden. Nach den Reminiszenzen an sowjetische Zeiten in unserem Hotel in Odessa, lie? unser Lemberger Hotel Cisar nun Erinnerungen an die alte Habsburgermonarchie wach werden. Kaiser Franz Josef zierte nicht umsonst das Logo der Hotelkette – und das Etikett der Wasserflaschen. Der Stadtrundgang mit einem Guide führte uns vorbei am Marktplatz zu verschiedenen Kirchen: zur lateinischen Kathedrale Mari? Himmelfahrt, der Kathedrale des Erzbistums Lemberg, zur Dominikanerkirche, zur Jesuitenkirche Hl. Peter und Paul, einer der ersten Barockbauten in Lemberg,  und zum Bernhardinerkloster, das heute die St. Andreas-Kirche beherbergt. Besonders beeindruckte aber die Ausstattung der armenischen Mari?-Entschlafens-Kathedrale mit ihrer armenisch-orientalischen Ornamentik und den Wandgem?lden von Jan Henryk Rosen aus den 1920er Jahren.


Auf dem Programm standen auch die Besichtigung der Sammlung im Potocki-Palast, der Lemberger Gem?ldegalerie sowie einer Sonderausstellung zum Thema ?Jüdische Kunst“ im Ethnographischen Museum. Das ?jüdische Lemberg“ wurde uns in einer gesonderten Stadtführung n?hergebracht, bei der wir das ehemalige jüdische Viertel kennenlernten und das Memorialmuseum ?Territorium des Terrors“ besuchten.

Zu den kulturellen Highlights in Lemberg geh?rte u.a. ein Kaffeehausbesuch mit einer kurzen Einführung in die Kaffeehauskultur und die Kulturgeschichte der Lemberger Lokale, denen in einem plurinationalen Umfeld gewiss eine integrierende Rolle zukam, egal ob nun elit?r-universit?r, künstlerisch oder revolution?r-st?dtisch gepr?gt. Dies gilt auch für die Gegenwart, wovon wir uns in einer Bierhalle überzeugen konnten, in der wir mit vielen Lembergern und Touristen das moderierte WM-Finalspiel  verfolgten. Im Gegensatz dazu stand am Abend davor ein Besuch der Oper ?Aida“ von Verdi auf dem Programm. Da aufgrund der schlechten Wetterlage nicht alle geplanten Programmpunkte erfüllt werden konnten, nutzten wir an unserem letzten Tag in Lemberg die Gelegenheit zu einem moderierten Gespr?ch mit unserem Stadtführer über die (wirtschaftliche und politische) Entwicklung der Ukraine. Lemberg ist historisch bedingt im Vergleich zu den beiden anderen von uns besuchten St?dten sowohl architektonisch als auch kulturell recht westlich gepr?gt, wovon nicht nur viele alte Postkarten und Stadtansichten in den Lokalen zeugen.  


KIEW (17.07.2017)

Nach einem dritten und letzten Nachtzugabenteuer kamen wir schlie?lich um 06:49 Uhr wieder in Kiew an. Ein Frühstück sollte die müden Geister – mehr oder weniger erfolgreich – wieder zum Leben erwecken, bevor wir unsere letzten Stunden in der Ukraine im Nationalmuseum Kiewer Gem?ldegalerie im ehemaligen Privathaus des Sammlers Fedor Tereschtschenko verbrachten. Auch wenn dem Museum wie andere auch eine Renovierung guttun würde, begeisterte es uns mit Gem?lden berühmter Maler wie Ilja Repin, Iwan Schischkin, Michail Wrubel und Wassili Polenow. Nach einiger Versp?tung sind wir schlie?lich um Mitternacht mit vielen neuen Eindrücken und den ein oder anderen Souvenirs im Gep?ck wieder gut in Bamberg angekommen.

Herzlichen Dank an Ada und Boris Raev und Johannes Grotzky für die Organisation, Durchführung und herzliche Begleitung dieser überaus gelungenen Exkursion! Wir denken sehr gerne an die gemeinsamen Erlebnisse zurück und freuen uns auf die n?chste Reise ;-)

Ukraine Exkursionsalphabet (2.3 MB, 10 Seiten)

Text: Magdalena Burger und Jaroslav Sebov

Fotos: Prof. Dr. Ada Raev, Magdalena Burger und Daniel Jankowski