Die Verzauberung der Welt. Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften

Im vierten Vortrag des Theologischen Forums im Wintersemester 2018/19 unter dem Titel ?Verzauberung der Welt? legte Ernst Peter Fischer, Au?erplanm??iger Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universit?t Heidelberg, am 05. Dezember 2018 dar, wieso die Naturwissenschaften eben nicht die Welt entzaubern, sondern erkennen lassen, wie ?verzaubert‘ die Welt ist.

Fischer entfaltete in seinem Vortrag eine zentrale These: Die Naturwissenschaften heben das Geheimnisvolle der Natur und der Welt nicht auf. Im Gegenteil: Sie vertiefen das Geheimnis der Welt durch die Erkl?rungen, die sie bereitstellen. Diese These belegte Fischer durch eine Analyse der Ph?nomene der Schwerkraft und der Natur des Lichts.

Zur wissenschaftlichen Geschichte der Schwerkraft zog der Wissenschaftshistoriker Fischer zun?chst Aristoteles‘ Erkl?rung von Schwerkraft heran. Der griechische Philosoph war der ?berzeugung, dass Dinge nach unten fallen, weil sie selbst dies wollen – er folgte also einer zielgerichteten oder kausalen Erkl?rung. Issac Newton hingegen pr?gte die Debatte um die Schwerkraft mit dem Begriff der Fernwirkung. Die Erde, so nahm es der britische Naturforscher an, übe eine Wirkung auf das auf sie zu fallende Objekt aus. Tiefer verst?ndlich wurde die Schwerkraft erst in der Zeit der Romantiker, die sichtbare Dinge durch die Wirkung unsichtbarer Dinge erkl?rten. Aus dieser Epoche stammt der Begriff des Gravitationsfelds. Albert Einstein wiederum erkl?rte den Ursprung eines Gravitationsfeldes durch eine Raum-Zeit-Krümmung, die durch Materie ausgel?st würde. Fischer machte mit dieser Kurzgeschichte der Erkl?rungsversuche der Schwerkraft vor allem deutlich, dass jede neue Erkl?rung geheimnisvoller als die Erkl?rung davor erscheint und sich so immer neue und immer weitere Fragen auftun. Das R?tsel der Gravitation ist auch heute noch nicht gel?st.

Auch der Erkl?rung der Natur des Lichts rückte Fischer mit einer ?hnlichen Analyse zu Leibe. Zun?chst galt die Erkl?rung, dass eine transzendente Macht das Licht schaffe. Newton zeigte mit Versuchen zur Aufspaltung des Lichts, dass ebendieses aus kleinen Teilchen bestehen müsse. Thomas Young indes konnte, auf den Versuchen von Christiaan Huygens aufbauend, nachweisen, dass Licht mit Licht interferiert, und somit nicht aus Teilchen bestehen konnte, sondern eine Welle sein muss. James Clerk Maxwell konnte zudem nachweisen, dass sich magnetische und elektrische Felder gegenseitig induzieren. Somit muss Licht eine elektromagnetische Welle sein. Und um die verschiedenen Zug?nge zum Licht abzurunden, wies Fischer auf Albert Einstein hin, der eine erh?hte Leitf?higkeit bei beleuchteten Objekten feststellen konnte. Seine Erkenntnis: Licht ist weder eine Welle noch besteht es aus Teilchen, sondern beide Erkl?rungen sind zugleich wahr. Licht besteht folgenderma?en aus Teilchen und ist dennoch eine Welle.

Mithilfe dieser wissenschaftshistorisch aufgearbeiteten Beispiele stützte Fischer die These, dass durch die Naturwissenschaften die Anfragen an die Welt durch den Menschen zunehmen und somit das Forschen am Geheimnisvollen der Natur voranbringen, jedoch ohne dieses Geheimnis jemals lüften zu k?nnen. Somit sind die Naturwissenschaften weniger die Entzauberter der Welt, sondern vielmehr diejenigen Instanzen, die die Geheimnisse und das Wunderbare der Welt für den Menschen greifbar und begreifbar machen. Aus diesem Grund macht sich Fischer auch dafür stark, dass Schulen und Universit?ten sich nicht darauf beschr?nken sollten L?sungen für wissenschaftliche Fragen anzubieten, sondern vielmehr die Gelegenheit bereitstellen sollen, das Geheimnisvolle der Welt erspürbar zu machen.

Die Schlussfolgerung aus diesen beiden Beispielen synthetisierte Fischer nach der Vorstellung des Dichters Novalis. Dieser wollte die Welt romantisieren. In seinen ?Fragmenten und Studien? geht Novalis der Frage nach, wie sich scheinbar v?llig ausschlie?ende Gegens?tze zusammenführen lassen. Er schreibt: ?Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gew?hnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Naturwissenschaften, so Fischer, tragen diese romantischen Züge, weil sie das Geheimnisvolle nicht aus der Welt vertreiben, sondern erst recht sichtbar und deutlich machen.

Hinweis

Diesen Text verfasste Simon Scheller. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.